Sicherheit versus Autonomie?

Als ich während meines Studiums im ambulanten Pflegedienst arbeitete, betreute ich eine Frau, die eine leichte bis mittlere Demenz hatte und noch zu Hause lebte. Alleine. Die erwachsenen Kinder hatten sie zu überreden versucht, in ein Pflegeheim zu  gehen. Vergeblich. Und so wurden im Haus einige Maßnahmen getroffen, um dort größtmögliche Sicherheit zu gewährleisten –  beispielsweise ein Herd, der sich nach einiger Zeit selbst abschaltet, ein Schloss an der Tür, das auch geöffnet werden kann, wenn innen ein Schlüssel steckt. Mehrmals am Tag kam der Pflegedienst, auch die Kinder besuchten ihre Mutter regelmäßig.

Eines Tages kam ich zu der Frau, als ihr Sohn ebenfalls anwesend war. Mir war schon einige Zeit vorher aufgefallen, dass das Haus eine sehr steile Kellertreppe hatte, und ich wusste, dass die Dame nahezu täglich hoch- und hinunterging, um Getränke zu holen. Es war ihr wichtig, diese Gänge selbst zu übernehmen. Ich nutzte die Gelegenheit und fragte den Sohn: „Was passiert, wenn sie die Treppe herunterfällt?“ Und er antwortete nur einen Satz, den ich bis heute in Erinnerung habe: „Dann fällt sie“.

Mich hat die Antwort damals sehr irritiert. Konnte es wirklich sein, dass die Kinder dieses Risiko bewusst in Kauf nahmen? Heute, viele Jahre später, glaube ich, dass das die beste Antwort war, die der Sohn mir geben konnte: Die Familie hatte erkannt, dass es ein wesentlicher Teil der Lebensqualität dieser Frau war, noch eine Weile im eigenen Haus wohnen zu können. Und sie hat eine Menge Vorkehrungen getroffen, um größtmögliche Sicherheit im Haus zu geben. Die Kinder sind aber gleichzeitig auch das Risiko eines Sturzes eingegangen, darauf vertrauend, dass selbst dann die Zeit, die sie noch alleine selbstbestimmt leben konnte, die möglichen Folgen aufwiegen würde.

Ich weiß, dass es Familien gibt, die dieses Vorgehen nicht nachvollziehen können und die, aus berechtigter Sorge, ihre Angehörigen nicht in diesem Haus hätten leben lassen. Ich erlebe in meinen Beratungen häufig  Menschen, die um jeden Preis alle Gefahren ausschließen wollen. Ich kann das verstehen und versuche auch nicht, die Familien vom Gegenteil zu überzeugen. Aber ich versuche, sie zum Nachdenken anzuregen: Wenn einem Menschen das Spazierengehen so wichtig ist, sollte man es nicht auch dann zulassen, wenn der Mensch an Demenz erkrankt ist? Und wenn keiner mitgehen kann und er alleine geht, wiegt das Glück über die Selbstwirksamkeit, das er dabei empfindet, mögliche Risiken nicht auf? Müssen wir nicht alle täglich mit Risiken leben? Was ist das Schlimmste, was passieren könnte? Und was können die Angehörigen tun, um ihre Angst möglichst zu minimieren? So viel Schutz wie nötig, so viel Autonomie wie möglich. Entgegen dem Anschein stehen diese beiden Maxime nicht im Widerspruch zueinander.

Die Dame wohnte noch etwa zwei Jahre in ihrem Haus. Die Treppe heruntergefallen ist sie nie, aber es kam der Zeitpunkt, an dem sie wegen zunehmender Pflegebedürftigkeit nicht mehr zu Hause leben konnte und sie in eine Demenz-Wohngemeinschaften zog. Ich wünsche mir, dass meine Kinder, falls ich einmal an einer Demenz erkranke, wie die Kinder dieser Frau reagieren: Sorgfältig abwiegen, auf Wünsche und Bedürfnisse eingehen, und ja, auch Risiken zulassen. Letztlich zur Liebe zu mir und meiner Lebensqualität.

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