Jede Woche haben wir mehrere Beratungsgespräche mit Betroffenen und/oder ihren Angehörigen, auch mit Nachbarn, Freunden oder anderen Interessierten. Häufig ist es so, dass Ärzte die Betroffenen auf uns aufmerksam machen, dass Menschen uns empfehlen, die unser Haus und unsere Arbeit bereits kennen. Einige stoßen auch in der Tagespresse oder dem Internet auf unser Beratungsangebot. Jeden Mittwoch bieten wir zwischen 12 und 14 Uhr eine „offene Beratungsstunde“ an, für die keine Voranmeldung benötigt wird. Manchmal zeigen auch kurze Gespräche und Begegnungen in unserer Cafeteria Beratungsbedarf auf und es wird ein gemeinsamer Termin vereinbart. In den meisten Fällen aber erfolgt die erste Kontaktaufnahme und die Terminfindung für ein persönliches Gespräch telefonisch, meist einige Tage im Voraus.
Genau wie die Kontaktanstöße unterschiedlich sind, so sind es auch die Zeitpunkte im Krankheitsverlauf, an denen unsere Beratung in Anspruch genommen wird: Manche kommen bereits vor der Diagnose, um möglichst viel vorab zu erfahren, einige direkt danach, wieder andere erst, wenn die Erkrankung bereits weiter fortgeschritten ist. Und jedes Gespräch ist wie ein Buch, bei dessen Lesebeginn man nicht weiß, welches Genre, welche Geschichte sich entwickelt. Die Demenz selbst ist immer auch Teil der Erzählung, das versteht sich von selbst. Aber das, was drumherum passiert und mir mitgeteilt wird, ist jedes Mal wieder neu, einzigartig und kaum miteinander zu vergleichen. Für ein Gespräch mit Angehörigen plane ich immer mindestens eine Stunde ein. Manchmal sind die Gespräche länger, manchmal auch kürzer. Mir ist es wichtig, dass die Ratsuchenden wirklich zur Ruhe kommen, Zeit haben, ihre Geschichte und ihre Fragen gemeinsam mit mir durchzugehen und letztlich die Hilfe erhalten, die sie brauchen.
Was genau sie brauchen, ist in manchen Fällen zunächst gar nicht so klar, auch nicht den Hilfesuchenden selbst. Dann höre ich erstmal zu, frage empathisch nach, gebe genügend Raum, und in den meisten Fällen klärt sich dann, worum es eigentlich geht, zu was Informationen oder bei was Beistand benötigt werden. Manchmal steht das Gefühl der Angehörigen im Mittelpunkt, überfordert zu sein, nicht zu wissen, wie es weitergehen kann. Manchmal sind es auch familiäre Probleme, die eh schon im Raum lagen und nun, bei der Erkrankung eines Angehörigen, zum Ausbruch kommen. Beispielsweise unter Geschwistern: Wer kümmert sich mehr, wer wird mit dem Leid stärker konfrontiert, wer war immer schon das Lieblingskind? Bei Paaren ist es in einigen Fällen die so schwer zu formulierende Trauer darüber, nicht mehr erkannt zu werden, so viele gemeinsame Pläne aufgeben zu müssen. Ich höre zu und drösele auf: Was ist die dringendste Not, was konkret können die nächsten Schritte sein? Häufig liegt Erleichterung in der Luft, wenn es uns gemeinsam gelingt, erste kleine Ziele formulieren zu können. Das kann sein, dass Geschwister noch einmal gemeinsam zur Beratung kommen, dass der Pflegestützpunkt kontaktiert wird, dass die betroffene Person zu uns in die Tagesbetreuung kommen kann. Manchmal sind es auch Tipps zum Umgang, zur Kommunikation mit den Betroffenen selbst. Kämpfen Sie nur die Kämpfe, die Sie unbedingt kämpfen müssen. Ja, es kommt vor, dass man in der Überforderung auch mal ungerecht reagiert. Was kann helfen, das beim nächsten Mal zu verhindern?
Ich lasse mich bei den Beratungen ganz auf die Personen ein, die vor mir sitzen und versuche, durch ihre Brille die Welt zu sehen und zugleich auch einen Schritt zur Seite zu treten, um Unterstützung anbieten zu können – Nähe und Distanz zugleich. Besonders herausfordernd sind für mich die Gespräche mit Betroffenen selbst. Gerade Menschen, die in jüngeren Jahren an einer Demenz erkranken, sind oft bei den Beratungsgesprächen dabei oder kommen auch ohne begleitende Person. Dann muss ich während des Gesprächs erkennen, wie weit sich die Person mit ihrer Erkrankung auseinandersetzen will. Jeder hat ein Recht auf Verdrängung. Mir steht es nicht zu, Betroffene mit etwas konfrontieren, mit dem sie sich nicht auseinandersetzen wollen oder können. Da ist Feingefühl verlangt. Meist dauern diese Gespräche über eine Stunde und sind auf ihre Art für alle Beteiligten anstrengend – aber noch nie hatte ich nach einem Gespräch das Gefühl, nicht auf irgendeine Weise weitergeholfen zu haben, und sei es nur mehr Zuversicht, mit der die Ratsuchenden die Beratung wieder verlassen.
Es gibt aber natürlich auch die kurzen Gespräche mit konkreten Fragen, es gibt Gespräche, die Folgetermine sind, also Familien, die mehrmals zu Gesprächen kommen und mich daran teilhaben lassen, was sich verändert hat – im Krankheitsverlauf, aber auch im Umgang damit. Familien, Betroffene über einen längeren Zeitraum konstruktiv zu begleiten, ist mir ein großes Anliegen. Und ich erlebe viele Familien, die mich beeindrucken, weil man ihnen und ihrer Interaktion untereinander anmerkt, wie viel Wertschätzung und Hilfe sie sich gegenseitig entgegenbringen, auch in den schwierigsten Situationen. So bin auch ich es, die in jedem Beratungsgespräch etwas lernen kann. Auch für diese Erfahrungen bin ich sehr dankbar, ebenso über Dankemails wie diese, die ich immer mal wieder nach Beratungen erhalte: „Sie haben mir so weitergeholfen, ich denke oft an unser Gespräch zurück und habe weniger Angst vor dem, was noch kommt“.