Wenn Menschen anderen Menschen davon erzählen, dass ein Elternteil, vielleicht aber auch der Partner oder die Partnerin an Demenz erkrankt ist, erfahren sie in der Regel viel Mitgefühl – und auch schon zu Lebzeiten des Betroffenen viel „Mit-Leid“. Das ist sicher auch darauf zurückzuführen, dass Demenz und die schweren Folgen der Erkrankung gesellschaftlich mittlerweile recht bekannt sind. Unter anderem, dass die Betroffenen, zunehmend über die Zeit hinweg, Fähigkeiten, persönliche Eigenarten – das, was sie ausmacht – verlieren und in vielen Situationen nicht mehr wiederzuerkennen sind. Die Vertrautheit, die die Beziehungen prägte, geht Stück für Stück verloren.
Das Zusammenleben mit einem Menschen mit Demenz ist ein „Abschied auf Raten“. Immer, wenn Angehörige begonnen haben, den Verlust einer Kompetenz oder ein Verhalten zu akzeptieren, kommt es erneut zu einer Veränderung, so dass von den nahestehenden Bezugspersonen ein andauernder Anpassungsprozess gefordert wird. Das Zusammenleben mit einem Menschen mit Demenz ist somit ein chronischer Trauerprozess. Angehörige, insbesondere Partner und Partnerinnen, berichten davon, wie sehr es schmerzt, dass ein Alltag auf Augenhöhe mit Fortschreiten der Erkrankung immer weniger möglich ist. Frühere Probleme, aber auch aktuelle Konflikte und Überforderungen können nicht mehr angesprochen und aufgearbeitet, eine Zukunft nicht mehr gemeinsam geplant werden.
Angehörigen von Menschen mit Demenz wird die Trauer um diese Verluste, um die verlorengehende gemeinsame Zukunft inzwischen immer häufiger zugestanden. Von der Trauer des erkrankten Menschen ist selten die Rede.
Auch der Mensch mit Demenz trauert, er trauert um sich selbst! Wenn ein Betroffener, eine Betroffene die Diagnose erhält, ist er oder sie häufig kognitiv noch in der Lage, die Folgen dieser Diagnose für das eigene Leben und das des Umfelds abschätzen und betrauern zu können. Der Mensch erfährt, dass er eine Erkrankung hat, die nicht nur sein Leben begrenzt, sondern die ihm wahrscheinlich schon in den kommenden Jahren vieles von dem nehmen wird, was er kann und was ihn über die Jahre zu dem gemacht hat, was er ist. Dass er immer abhängiger von anderen Menschen werden wird. Es ist völlig verständlich, dass dieses Wissen den Betroffenen den Boden unter den Füßen wegziehen kann.
Wie Menschen mit Demenzen mit der Diagnose umgehen, ist wie bei allen Krankheiten sehr unterschiedlich. Wir erleben, dass einige wie geschockt sind und erstarrt wirken, sich zurückziehen. Andere werden wütend, verdrängen, wieder andere möchten so viel wie möglich über ihre Erkrankung erfahren. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie sich von ihrem gewohnten Leben lösen müssen und einer ungewissen Zukunft entgegensehen. Anders als die Angehörigen sind sie der Konfrontation mit ihren Verlusten rund um die Uhr ausgesetzt, häufig werden auch alte Trauergefühle und Traumatisierungen plötzlich wieder oder erstmals erlebt. Auch diese Trauer ist chronisch, ist immer vorhanden. Anders aber als bei den Angehörigen ändern sich im Verlauf der Erkrankung die Möglichkeiten, die den Erkrankten zum Ausdruck ihrer Trauer zur Verfügung stehen. Mit Fortschreiten der Demenz gehen den Betroffenen rationales Denken und Verhalten immer mehr verloren. Was ihnen hingegen meist lange noch bleibt, sind oft überschäumende Emotionen: Wut, Angst, Traurigkeit, manchmal verpackt in Schuldzuweisungen, Leugnen oder Verdrängen. Diese Emotionen und ihr manchmal so irrational scheinendes Auftreten sind somit häufig nicht Ausdruck der Erkrankung, sondern der Trauer über diese und den Verlust ihrer selbst – gepackt in das, was noch bleibt, wenn kognitive Bewältigungsstrategien immer mehr verloren gehen.
Es ist wichtig, dass wir uns dessen bewusst werden, denn sonst passiert, was leider viel zu oft zu beobachten ist: Die Trauer des Menschen mit Demenz um sich selbst wird oft nicht als solche anerkannt und dem Menschen mit Demenz vielleicht sogar abgesprochen. Was wahrgenommen wird, ist sein sogenanntes „herausforderndes Verhalten“, das sozialen Normen nicht zu entsprechen scheint, das wir nicht verstehen und als Krankheitsäußerung bewerten, das aber in vielen Fällen von der Trauer eines Menschen darüber zeugt, sich selbst zu verlieren.
Was können wir lernen aus dieser Auseinandersetzung? Dass Trauer auf allen Seiten anzutreffen ist und sich immer Ventile sucht, die noch bleiben. Dass es wichtig ist, der Trauer Raum zu geben und sie als das zu erkennen, was sie ist. Und die Betroffenen dabei achtsam zu begleiten. Jeder Mensch trauert anders, jeder Mensch ist Experte für seine eigene Trauer. Ob er an Demenz erkrankt ist oder nicht.