Im Schicksal die Kraft zur Bewältigung finden – Biografiearbeit als Therapie

Für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen ist es oft sehr schmerzhaft, wenn nach und nach Erlebnisse nicht mehr erinnert werden. So besteht eine der größten Ängste darin, dass die liebsten und wichtigsten Bezugspersonen nicht mehr erkannt werden. Das ist jedoch nicht zwangsläufig so und es lohnt sich, von Beginn an die heilsamen Anteile der Biografiearbeit in den Blick zu nehmen. Hierzu habe ich mit der Psychologischen Psychotherapeutin Cathrin Otto aus Wiesbaden gesprochen. Sie ist eine Vorreiterin auf dem Gebiet der Lebensrückblick-Therapie.

Wie kann ich mir Ihre Arbeit mit älteren Menschen vorstellen?

Ich lasse mir ungefiltert erst einmal die ganze Lebensgeschichte erzählen, beginnend bei der Kindheit und den frühesten Erinnerungen, über das Erwachsenwerden und darüber hinaus. Jeder Teil wird dann genauer betrachtet, vor allem die Highlights nehmen wir in den Blick, denn die damit verbundenen Emotionen und Handlungen sind wichtige Ressourcen. Die ganze Therapie geht über fünf bis sieben Sitzungen und meist findet sich ein roter Faden.

Ich nenne ein Beispiel: Ein Herr in den 80ern, sehr klug und eloquent, kontaktierte mich. Der Anlass war, dass er aufgrund einiger Erkrankungen, unter anderem eines Schlaganfalls, zunehmend eingeschränkt war und eine Depression bekam. Vorher war er sehr gesellig, hat in einer Big Band gespielt und aus dem Vollen geschöpft. Das alles war nun weg. Der Tod seiner Frau hat ihm ebenfalls sehr zugesetzt. Hier war es wichtig, die besagten Ressourcen, also die positiven Erlebnisse möglichst detailliert zu beschreiben. Das war zwar nicht ganz einfach, weil er durch den Schlaganfall Mühe beim Sprechen hatte. Dennoch habe ich ihn immer wieder von den beglückenden Momenten berichten lassen, was ihn innerlich immer wieder in die glückliche Situation geführt hat. Bei aller Trauer geht es jedoch darum, eine insgesamt positive Bilanz zu ziehen.

Wie funktioniert die Lebensrückblick-Therapie bei Menschen mit einer Demenz?

Wie bei allen Patienten braucht es besonderes Fingerspitzengefühl und Kompetenz, damit schlimme Erfahrungen oder gar Traumata erkannt, aufgefangen und verarbeitet werden können. Häufig noch sind es Kriegserfahrungen, die tief wirken und einen großen Leidensdruck erzeugen. Die Lebensrückblick-Therapie, die ich sehr gerne mit älteren oder Menschen mit Demenz mache, ist die letzte Gelegenheit, damit Frieden zu schließen. Wesentlich auch hier sind die Ressourcen, die jeder Mensch in sich trägt und die entdeckt werden sollten. Ebenso noch umsetzbare Wünsche oder Pläne, Fähigkeiten und Talente, die genutzt werden können.

Können auch Angehörige eingebunden werden?

Ja, sie sind ein wichtiger Teil des Systems. Sie profitieren genauso von der Therapie, um im Alltag klarzukommen. Sie leiden unter großem Frust und großer Trauer, mitunter auch unter Gewalt. In der Lebensgeschichte der Angehörigen schwingen immer Erlebnisse und Erinnerungen „davor“ und „danach“ mit, mal positiv und mal negativ. Besonders schlimm ist es, wenn Partner schon immer in der Beziehung gelitten haben und durch die Demenz der Alltag noch unerträglicher wird.

Ich mache unter anderem dann die „Zwei-Sessel-Übung“: Zuerst soll sich die Person auf den einen Stuhl oder Sessel setzen und das Leben und die damit verbundenen Gefühle beschreiben, wenn alles bleibt, wie es ist. Der Stuhl ist das Symbol für die aktuelle und normale Situation. Danach geht es auf den anderen Sessel oder Stuhl und es soll ein Leben ohne die Beziehung und das damit verbundene Leiden beschrieben werden. Diese kleine physische Anpassung der Lage im Raum bewirkt bereits etwas. Die Übung eignet sich nicht nur bei einer schwierigen Lage wie Demenz, sondern auch bei Depressionen, Angst- oder posttraumatischen Belastungsstörungen.

(Hinweis: Cathrin Otto ist auch in Sabine Bodes Buch „Frieden schließen mit Demenz“ vertreten)

Weitere interessante Einblicke in die Biografiearbeit gibt es hier:

https://www.demenz-support.de/media/dess_orientiert_1_16_biografiearbeit_und_erinnerungspflege.pdf

 

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