Jetzt kommen wir zu einem dritten, wieder anders ausgerichteten Beispiel: Moni und Herbert sind früher gerne in ein kleines Restaurant in der Nähe ihres Hauses gegangen, sie haben das beide sehr genossen. Seit Herberts Demenz weiter fortschreitet, waren sie nicht mehr dort. Moni empfindet Scham bei dem Gedanken, das Servicepersonal und auch andere Gäste dort könnten von der Erkrankung erfahren.
Heute jedoch besuchen sie seit langer Zeit mal wieder das Lokal, Moni freut sich sehr, ist aber auch voller Anspannung. Zunächst verläuft alles entspannt, Herbert sucht sich auf der Karte sein Lieblingsgericht aus, das kann er gut, daran erinnert er sich. Nach etwa 30 Minuten jedoch wird er unruhig, das Essen ist noch nicht da, er läuft immer wieder zwischen den Tischen hin und her. Die Gäste reagieren irritiert, der Service auch. Als Herbert dann beginnt, sich an den Tischen der anderen Gäste bedienen zu wollen, eskaliert die Situation. Auf das ihm entgegengebrachte Unverständnis ruft er andauernd laut aus, er habe doch Hunger! Moni entschuldigt sich schnell und zieht Herbert nach draußen. Sie empfindet eine tiefe Scham. Und irgendwie auch, wenn sie ehrlich ist, Wut und Verzweiflung.
Dieses Beispiel ist wieder anders gelegen: Natürlich gibt es kein grundsätzliches Recht von Moni, ein Restaurant zu besuchen. Die anderen Gäste und auch der Service sind verständlicherweise mit Herberts Verhalten überfordert. Sollte Monika also nicht einfach auf das Essengehen verzichten oder, wie im Beispiel mit den Freundinnen, für diese Zeit jemanden bitten, bei Herbert zu sein?
Ich sehe hier die Lösung wieder woanders, und zwar auf einer gesellschaftlichen Ebene. Könnte die Demenz nicht so weit in unsere Gesellschaft integriert werden, dass Angehörige keine Scham empfinden müssen, offen und transparent mit dieser Erkrankung in die Öffentlichkeit zu gehen? Dann ließe sich die Geschichte ganz anders erzählen: Würde Moni nicht bereits Scham empfinden bei dem Gedanken, dass andere von Herberts Erkrankung erfahren, hätte sie den Service im Lokal über die Demenz ihres Mannes informieren können. Wenn das Lokal wiederum „demenzfreundlich“ wäre, sich also gut auf Gäste mit Demenz einstellen würde, könnte man organisieren, dass Herbert nicht so lange auf sein Essen warten muss. Vielleicht könnte er auch direkt Fingerfood an den Tisch bekommen, etwas, was ihm besonders gut schmeckt und was Moni mit dem Lokal bereits vorher besprochen hat? Und wären Menschen mit Demenz grundsätzlich häufiger Teil unseres Alltags, würden uns Betroffene wie selbstverständlich in der Öffentlichkeit begegnen, wären auch die anderen Gäste weniger konsterniert, wenn Herbert sie an ihren Tischen „besuchen“ und mit ihnen Kontakt aufnehmen würde. Und Moni müsste nicht mit Scham auf diese Situation reagieren müssen.
Die von mir beschriebenen Beispiele scheinen sich in mancher Hinsicht zu ähneln, doch der Unterschied besteht darin, dass sie jeweils von anderen Akteuren Reflektion und Verhaltensanpassung einfordern: Ist es im Fall des fleckigen Hemdes die Partnerin, die dazu aufgefordert wird, ihre Glaubenssätze zu überdenken, ist es beim Beispiel des Toilettenbesuchs das Begleitsystem, das der Partnerin mit Rat und Tat zur Seite stehen sollte. Im Falle des Restaurantbesuchs wiederum sehen wir Verantwortung auf der gesellschaftlichen Ebene: Wie können wir alle gemeinsam dazu beitragen, dass Menschen mit Demenz ganz selbstverständlich Teil unseres Alltags werden?